Eure Armut kotzt mich an!

Gerade scheint ein Artikel in der Zitty für Furore im Netz zu sorgen. Er behandelt die urbanen Penner: Sie sitzen mit Laptops in der Sandwich Lounge, spielen am Mobiltelefon und schlürfen einen Milchkaffee für 3 EUROnen. Sie bekommen 1200 Euro jeden Monat und geben sie für sich, die Büromiete, das Handy und die Wohnung aus. Sie können jeden Tag noch bis spät in die Nacht arbeiten und keiner hat sie lieb. Die Liebe von Mami und Papi reicht ihnen nicht mehr, sie vertauschten sie gegen das Geld. Und sie fühlen sich ganz arm...

Nigel Barley schrieb einmal über die Armut in der modernen westlichen Welt: Armut sei nicht mehr die Not am Überleben, wie man sie in anderen Regionen der Welt kennt. Armut ist das Gefühl, zu leiden, weil man es nicht schafft, seine materiellen Bedürfnisse zu stillen. Dass sich der promovierte Kulturwissenschaftler und Autor in der Stadtillustrierten Zitty selbst als arm beschreibt scheint seinen Leidensgenossen sehr zu gefallen, die Reaktionen im Netz sind grandios. Sie sind grandios weil sie ein Bild für die junge Generation unserer Mittelbürgerschichten zeichnen.

Dieses Bild zeigt nun sein krankes Gesicht. Wir sind in wirtschaftlicher Sicherheit aufgewachsen und unsere Eltern, die es zum Teil noch anders kannten, machten es möglich, die Grundlagen zu legen, die uns schließlich zu dem machten, was wir sind. Sie fuhren mit uns in den Wintersport, im Sommer an die Meere, mit dem Fahrrad oder Auto durch entfernte Gebiete. Sie ließen uns mit Taschengeld bewaffnet die Welt der kleinen Lebensmittel- und Klammotten-Läden erobern. Sie ließen uns studieren und wer sich hier nicht genügend unterstützen lassen konnte, versuchte es auf Staatsdarlehen, Sozialkosten und/oder eigenen Jobs. Nun haben wir Laptops, Mobiltelefone, Sandwichläden und Milchkaffees und manchmal auch ein bisschen Urlaub aber das ist alles Scheiße ...

Ein paar Tausend Kilometer weiter, bei meinen Kumpeln in Mittelasien erscheint die hier heraufbeschworene Armut als ein Paradies. Ein Laptop besitzen, arbeiten können, kein Stromabschalten nach sechs, keine kaputten Provider mit hohen Kosten, keine Angst vor steuerlicher Willkür privat arbeitender Steuerinspektoren, keine Angst vor Staatsgängelung und Straßenterror. Das muß das Paradies sein. Handyanrufe in Mittelasien dauern 5 sek., denn die sind kostenlos. Jede Minute Anruf kostet 6- 15 cent bei Anrufer und Angerufenem. Jede Zeitung kostet soviel wie ein hiesiges Schwarzbrot und ein Internetcafebesuch ein Mittagessen. Sie haben 20 EURO für den Monat zur Verfügung und dazu einen Vater oder Mutter, den sie unterstützen, Kinder zu Hause, die was haben wollen und sie sind alle paar Monate wieder arbeitslos, der Willkür ihrer Arbeitgeber wegen. So sieht es jenseits vom westlichen Armutsbauchnabel aus.

Ich gehöre laut Zeitungsartikel auch zu den urbanen Pennern, habe 1200 EURO, 3 Kinder, eine Promotion und jede Menge Zeit und ich finde es geil! Jenseits des Lebenstiles und der Arbeitszwänge der Verkäuferinnen und Handwerker, der Straßenbahnfahrer und Staatsangestellten beginnt mein Paradies. In unsere Ärsche führt eine Autobahn, die man über die Jahre eingebaut hat, auf denen auf sechs Spuren ständig Konsumgüter LKWs, Informationstieflader und Spaßwaggons eingefahren werden. Den einen bereitet sie Übelkeit, mir bereitet sie Freude. Ich bin lebenshungrig und nichtübersättigt. Ich bin weitgehend unabhängig von gesellschaftlichen Anerkennungszwängen in materieller oder seelischer Art. Dazu habe ich Familie. Ich bin frei von Aufstiegszwängen und großbürgerlichen Attitüden. Hört auf rumzukotzen! Fühlt Euch glücklich! Den Schlüssel dazu, den hat jeder für sich selbst. Und schaut mal 1 Meter neben euren Nabel! Da sieht die Wirklichkeit ganz anders aus.
stralau (Gast) - Fr, 14:13

Kleine Anmerkung: Mercedes Bunz ist, die auch für Existentielles Besserwissen und Debug schreibt, ist, glaube ich, eine Frau.

Ansonsten hastu im Prinzip recht, was Deinen Lebenslauf angeht und sie sagt ja auch nichts anderes, als daß das geil ist, auch wenn ich nachvollziehen kann, was Dich stört: ihr Jammern darüber, daß es keine Alternative gäbe. Klar, von oben (aus dem Westen) sieht die Welt eben anders aus.

Nun haben wir im Osten natürlich den Vergleich viel einfacher, da wir 1990 ungefähr auf dem Stand von Polen und der Slowakei waren und es heute trotz Massenarbeitslosigkeit vergleichsweise gut haben.

Einigermaßen problematisch ist es aber schon, daß ein großer Teil unserer Generation nicht in der Lage ist, sich um Altersvorsorge zu kümmern. Das wird bei gleichzeitiger Kinderlosigkeit ein Problem werden.

tl (Gast) - Sa, 15:21

"In unsere Ärsche führt eine Autobahn, die man über die Jahre eingebaut hat, auf denen auf sechs Spuren ständig Konsumgüter LKWs, Informationstieflader und Spaßwaggons eingefahren werden"
der schoenste satz, den ich seit langem gelesen habe!!

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Olim ist ein arabischer Vorname, der sich aus der Silbe ilm ableitet und soviel heißt wie der Wissende oder Wissenschaftler. Ich habe den Namen 1994 in Buchara verliehen bekommen und ein Jahr später angefangen, Mittelasienwissenschaften zu studieren. Das tue ich heute immer noch im fortgesetzten Stadium. Devona ist ein Wort das man fuer verrückt, entrückt, weggetreten benutzen kann. Es hat immer irgendwie mit Liebe zu tun, zu den Menschen, zum Leben, zu Gott. Naja und das zusammen macht die Figur Olim devona aus. Manchmal schlüfe ich in sie hinein und fuehle mich dann total devona.

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