Endlich vorbei: Dieses sind die 90er, schocken kannst Du niemals nie!

Das nun war die Realität, mit der ich aufgewachsen bin; frisch rauspubertiert aus einem System in dem die Auflehnung gegen das System schon seine fröhlichen Urständ feierte, wenn man mit Plastiktüten mit Westwerbung zu Schule ging, rein in eine fatalistische Gesellschaft, in der die Rebellion schlechterdings unmöglich war. Sie kollabierte mit dem liberalen System der alles vereinnahmenden Kapitalisten, machte aus jedem Rebellionsfurz eine “Leck mich am Arsch Fashion”. Selbst ein Negativiro wurde milde belächelt und führte in meiner Umgebung zu einem “huch!” aber zu keinem “Ach Du Scheisse!”. Mein Freund dagegen wurde mal mit seinem Iro aus einem Reisebüro rausgeschmissen. Dafür habe ich ihn beneidet, nur fragte ich nie, wo man dieses Spießerparadies finden könne. Ich wäre da auch allzugerne mal angeeckt. Wollte man also intelligent rebellieren, nicht wie meine Ex Schulkameraden mit dem Hitlergruß in der S Bahn und dem allabendlichen Zusammenschlagen von Asylbewerbern, die auf dem Weg zu ihren Heimen in deren Fänge gerieten, wollte man also intelligent rebellieren, so wie die Punkbewegung in den 80ern wo einfaches Aussehen schon die Geister scheidete, konnte man einpacken. Die, gegen die es hätte gehen können, interessierten sich nicht dafür oder waren selbst schon auf der eigenen Seite. Gegen den Irakkrieg sein, hieß mit Lichterketten von “Unter den Linden” zum “Brandenburger Tor”, da mitzumachen verriet vielleicht einen linken Impetus, war aber scheiße Mainstream. War man für den Irakkrieg, war man im Amerikanismus der CDU verfangen. War man für den Jugoslawienkrieg, reichte man der einen Mehrheit die Hand, war man gegen ihn der anderen Mehrheit. Rebellion abseits der Politik wurde in Tüten verpackt und in die Schaufenster gelegt. Als die ersten Kaufhauspuppen ihre Rastazöpfe trugen, war ich froh, meine bereits abgeschnitten zu haben.

Und nun, seit dem moralischen Aufwachen all unserer lieben süßen Neukonservativen, der Moralapostel, der Kulturkämpfer, der Exliberalen und Globalisierungseschatologen ist die Rebellion wieder möglich; endlich! Man ziehe sich eine Burqa an und gehe damit in die Schule, schwupps ist man standrechtlich, ohne Untersuchungen suspendiert. Und das schöne daran: Burqas gibt es nicht bei C und A und wird es sobald auch nicht geben. In der DDR verlangte eine auf die Klotür geschriebene Parole nach tagelangen Aussprachen. Heute ist es supereinfach. Will eine Klasse auf autonome Klassenfahrt gehen, vielleicht selbstorganisiert in die Rütlischule nach Berlin, dann ziehe man sich einfach kollektiv eine Burqa über. An irgendwelchen Vermummungsverboten sollte das wohl nicht scheitern. Sitzen die Jungs und Mädels in den Gymnasien wie in den Hauptschulen schon seit Jahren nach dem Kiffen auf dem Schulhof mit Sonnenbrillen im Unterricht und schweigen kollektiv, so ist das hingenommene Reaktion eines pupertierenden Volkes. Kleiden sie sich aber in die Tracht des Kollektivfeindes, werden sie schwupps verbannt.

Das brisante daran: Die Rebellion kommt nicht aus den warmen Stuben der verwöhnten und entvisionierten Bürgerkinder. Sie kommt aus den Reihen der seit Jahrzehnten entrechteten und mißachteten. Die dritte Generation der Wirtschaftsflüchtlinge, die keine Heimat hier bekommen und keine mehr da haben, wohin sie abgeschoben werden sollen, wenn sie nicht konform sind, begehrt auf. Nimmt sich der revolutionären Methoden, die Sorel noch die “erhabene Gewalt” nannte an (eine Gewalt, wie die Gewalt der Anarchisten, die direkt sein sollte und nicht durch die längst mediatisierte List ersetzt.) Und weiter: Diese Rebellion tut weh. Sie tut weh bei denen, die sich sicher wiegten in ihrem Wertesystem. Egal wie sie sozialisiert wurden, sie entdecken Werte wieder, die sie mit den leeren Hüllen “Abendland” bezeichnen: Freiheit, Pressefreiheit, demokratische Grundrechte, die Kette ist endlos. Doch die Kette schafft ein Kollektiv, ein Kollektiv deren Eintrittskarte Fragebögen sein sollen. Die Menschen mit Fragen konfrontiert, die sie selbst nicht beantworten können: “Die Demokratie ist nicht die beste aller Gesellschaftsformen, aber die Beste die wir haben, was sagen Sie dazu?” “Scheiss drauf!” Sage ich, denn die Demokratie die hier gemeint ist, ist kein toleranter Pluralismus, sondern eine eine Ausschlussgemeinschaft “wertebekennender” Bürger. Und deren ureigensten Wert, die Freiheit, die sie mit Füssen treten. “Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden!”, mit diesem Spruch der Rosa Luxemburg, wurde die DDR in meiner Jugend erschüttert. Das Land in dem ich lebe scheint gerade in diesen Tagen wieder einmal erschüttert zu werden. Das schöne dabei ist: Sie wird erschüttert durch einen Stoff, den man über sich zieht und mit dem man der Öffentlichkeit den Blick zu sich selbst versagt. Und hoffentlich lange: den Stoff, wird man so schnell nicht in Plastik verpacken und in die Schaufenster legen können. Die Burqa kauft man lieber in den Geschäften der Muslime und die haben sogar noch was davon. Mitten im Kapitalismus!
stralau - Mi, 22:45

Ha! Das Spießerparadies war das ehemalige Jugendtourist-Reisebüro in der Friedrichstraße (in den Neunzigern hieß es anders).

Zur Burka („Ist Weibsvolk anwesend?“ meinte heute jemand) gibt es auch noch ein Interview in der Taz vom Montag.

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Olim ist ein arabischer Vorname, der sich aus der Silbe ilm ableitet und soviel heißt wie der Wissende oder Wissenschaftler. Ich habe den Namen 1994 in Buchara verliehen bekommen und ein Jahr später angefangen, Mittelasienwissenschaften zu studieren. Das tue ich heute immer noch im fortgesetzten Stadium. Devona ist ein Wort das man fuer verrückt, entrückt, weggetreten benutzen kann. Es hat immer irgendwie mit Liebe zu tun, zu den Menschen, zum Leben, zu Gott. Naja und das zusammen macht die Figur Olim devona aus. Manchmal schlüfe ich in sie hinein und fuehle mich dann total devona.

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