Donnerstag, 11. Mai 2006

Na, schönen Dank Herr Enzensberger! Offener Brief

Der von Ihnen, Herr Hans Magnus Enzensberger, gefeierte Essay über die “radikalen Verlierer” machte ja nun seit seinem Erscheinen im Spiegel die große Runde, jetzt ist Ihr Büchlein dazu herausgekommen und wurde just letztens in der Zeit mit “Danke, Enzensberger” betitelt.

Und wirklich, die Studie fängt schön an, ist ein brillianter Essay über die Motivationen alleingelassener und sich ihrer eigenen Unfähigkeit gewissen Verlierer, die allwöchentlich in den Boulevardblättern ihre fröhlichen Urständ feiern. Wir wissen es seit Natural Born Killer, seit Bowling for Columbine, seit Nietzsche... Wie sagt da Nietzsche in seinem “Jenseits der Moral”?: Es haben manche Intellektuellen "einen lüsternen Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft - Paradoxen, am Fragwüdrigen und Unsinnigen des Daseins, [...] oder endlich ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel, und Bedürfnis nach Pfeffer."

Soweit so gut, die Studie ist ein hervorragendes Porträt eines Verlierers unserer Gesellschaft, der Moderne mit ihren Eigentümlichkeiten für Individualisierung, Komplexifizierung, Wertebildung aus Arbeitsethik, Wertschöpfung usw. Doch das sind die ersten 24 Seiten Ihrer 52 Seiten umfassenden Broschürche. Was geschieht in der anderen Hälfte des Buches? Sie, Herr Enzensberger besitzen den Mut und wagen sich heraus aus der Ihnen wohlbekannten modernen Welt und versuchen die islamischen Länder und wie Sie selber sagen ihre “Mentalität” zu verstehen.Und das (mit Verlaub) Herr Enzensberger, das ist völliger Nonsens. Aber ich schähme mich schon meines “völlig”, denn Ihre essayistische Stärke schafft es, Ihnen bis zur letzten Zeile ihres Werkes zu folgen, ohne das einem langweilig wird. Manchmal jedoch, manchmal wird einem schlecht dabei. Warum? Sicher nicht aus der oberlehrerhaften Arroganz von einem der es besser wissen will, sondern weil ich in Ihnen einen Kulturkämpfer entdecke, der eben das, was er am Anfang kritisiert in der zweiten Hälfte des Essays immer und immer wieder macht: Wertedisskussion. Doch, mit welchen Werten beschäftigen Sie sich: mit den Werten der modernen Welt und nicht mit den indigenen Wertesystemen der 1,8 Milliarden, wie Sie uns vorrechnen, Muslimen.

Um das nun aber stichhaltig zu begründen, muß ich ein bißchen mit meiner Kritik ausholen.
Ihre Analyse der westlichen Welt und ihrer Einzelgänger stützt sich, und das ist sicher richtig, auf den isolierten Einzeltäter, den keine Menschenseele wahrnimmt und wahrnehmen will.
In ihrem Fußnotenapparat darf man Wolfgang Sofsky finden, der mit seinem “Traktat über die Gewalt” genau diesen Ansatz der Gewalt des Einzeltäters, nicht des Kollektives ebenfalls vertritt.
Da Sie sich aber nun mit ihrer Einschätzung der islamischen Welt nicht auf Ihre eigenen Beobachtungen berufen wollten, haben Sie ja nun ein bißchen nachgelesen. Aber warum mußte es denn Oliver Roy sein, ein Politologe, dessen intime Kenntnisse über den politischen Islam er englisch geschriebenen Webseiten verdankt, die in der modernen Welt hergestellt und für unsere Gesellschaft geschrieben worden sind. Oliver Roy, Ihr Experte bedient sich selbst eines Küchenpersisch und ist, wenn er first class nach Iran und Afghanistan geflogen wird, sicherer im Umgang mit Muslimen ist, wenn er Übersetzer dabei hat. Sie stützen sich weiter auf Human Development Reports, die für eine Agentur geschrieben wurden (und da ist es unerheblich ob von Muslimen oder Nichtmuslimen), die sich dem Durchsetzen modernistischer Eschatologien verschrieben hat. Im Ethnologensprech heißen diese Institutionen Gutmenschenorganisationen.

Ich will mich nicht in Details verlieren, das würde ein vollständiges Kennen des Textes voraussetzen seitens derer, die diesen offenen Brief ebenfalls Lesen können. Ich will mich hier jetzt nur auf die Grundprobleme konzentrieren, an denen ihr hehres Zieles einer Analyse der islamischen (wie sie jedoch immer sagen arabischen Welt) Welt und ihres Islamismusses scheitert.
Sie brauchen für Ihre essyaistische Brillianz die Verkürzung und sehen Sie im Einzeltäter. Sie erschaffen ihn, in dem Sie einen (auch politisch) multiplen Islam zu einem gemeinsamen Islamismus konstruieren. Sie schaffen es weiterhin, 600 Jahre zusammenzufassen und auf den heutigen Zeitpunkt zu fokussieren, und dabei in Ihrer Argumentation mit Texten aus der Kreuzfahrerzeit aufzuwarten und mit Texten, die islamische Modernisten vor 100 Jahren als Kritik an ihre eigenen modernismusresistenten Landleute richteten. Das vermischen sie zu einem heutigen Präsens. Scheint es nicht schon hier sonnenklar, dass diese Texte den Leute in den islamischen Ländern heute nicht bekannt sind, vond denen sie nichts mehr wissen (wollen). Würden Sie zur Beschreibung der heutigen Lage auf römische Beschreibung der damaligen Germanen zurückgreifen?

Sie gehen in Ihrer Analyse von Einzeltätern aus, die ihre Kollektive finden, in denen sie sich aufgehoben fühlen und ihre schläfrige Gewaltmischung explodieren kann. Sie vergessen jedoch, dass im Islam es kaum Einzelne gibt, denn das hier agierende Kollektiv ist die Familie.

Sie arbeiten immer wieder mit den selbst in der modernen Welt überholten Argumente der Modernisierung. Für viele islamische Menschen können diese gar nicht gelten, da sie anderen Wertesystem anhängen. Dafür gebrauche ich Ihre Idee der Kühlschränke, Steckdosen usw. In der islamischen Werteskala steht der Händler gleich über dem Bettler, weil der, wie der Bettler weder ausreichend Land, noch ausreichend Vieh besitzt, um sich selbst zu ernähren. Ebenso steht es mit dem Handwerker. Handwerker, Bettler und Händler (und da sind wir Simmel für seine Analyse des Fremden dankbar) jedoch können es selten Leute aus den eigenen Reihen sein. Erstens, weil es anthropologisch gesehen unabdingbar ist, dass man sich eine gewisse Fremdheit behält, denn nur so erreicht man, dass der Verkehrshandel (Übervorteilung) nicht in den Gemeinhandel (fairer Tausch) umschlägt und somit in den eigenen Ruin führt. Zweitens, weil es einfach sich nicht mit den islamischen Werteskalen verträgt und schon deshalb nicht als Fehler im System oder Minderwertigkeitkomplexfördend ausgelegt werden kann, sondern als unerträglich für das eigene Los.

Ebenso unerträglich muß es dem auf Autonomie bewußten Muslimen gehen, wenn er mit allen hübsch nach (ihren) westlichen Maßstäben in einer globalisierten Welt leben muß. Die meisten (und das sind nicht die politischen) Muslime ignorieren das, was Sie hier Globalsierung nennen. Oder sie nutzen ihre Teilerrungenschaften für sich, weil die anderen “minderwertigen” Händler, Industriellen usw. “so schön doof” waren, ihnen es in den Schoß zu legen.

Der Höhepunkt Ihrer eigenen Projektion vom minderwertigen Fremden ist die Muslimen in den Mund gelegte Arroganz gegenüber anderen Wertesystemen, Religionen usw. Gewiß, es läßt sich für jede Argumentation ein hadiz oder eine Koransure finden, auch die Bibel mußte für alles mögliche herhalten aber mal ehrlich: wie lassen sich dann Phänomene wie Gastfreundschaft gegenüber jedem(!) Gast, die Hochschätzung der Mutter in jeder (!) Familie, die Höchstschätzung der eigenen Tochter (denn die verkörpert die Ehre des Vaters !) erklären. Das, was sie hier an Frauenfeindlichkeit beobachten, ist das fast Jahrhunderte alte Argument der Kulturkämpfer, das ignoriert, daß Söhne von ihren Müttern erzogen werden! Die an vielen Stellen verzeihliche Detailungenauigkeit ihres Essays öffnet hier Tor und Tür für alle, die im Islam einen Kollektivfeind sehen wollen. Übrigens ist es ein Jahrhunderte altes Topos seine Feinde zu diffamieren, in dem man ihnen Frauenfeindlichkeit und Schändung von den gesellschaftlich Schwächsten unterstellt, wie Sie es mit ihren zerstörten Krankenhausbildern aus Hollywoodinszenierungen erträumten Metaphern schaffen. Das ist ein altes Anthropinon, denn hier sammelt sich dann die Wut des eigenen Kollektivs gegen seine Feinde.

Ich wollte, ihre Analyse wäre mit ihrer Brillianz bei Phänomenen vor der Haustür geblieben, denn hier finden Sie den Stoff, der Ihnen recht gibt. Hier gibt es die radikalen Verlierer, die Visionslosen. Es sind die (nach Nietzsche) mit dem schöpferischen Nein der aus geborene Sklavenmoral geborenen Überzeugungen, die anderen zum Umsturzgedanken verhelfen. Diese lassen ihre radikalen Verlierer erkennen und das macht ihre Studie brilliant. Aber sie wird gefährlich, wenn der Verliererstatus zur Projektion wird: hierfür benutzen Sie die islamische Welt. In Ihrem Falle bleibt es nur eine traurige zum Kulturkampf geborene Projektion, die so besser nicht ausgesprochen worden wäre!

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Olim ist ein arabischer Vorname, der sich aus der Silbe ilm ableitet und soviel heißt wie der Wissende oder Wissenschaftler. Ich habe den Namen 1994 in Buchara verliehen bekommen und ein Jahr später angefangen, Mittelasienwissenschaften zu studieren. Das tue ich heute immer noch im fortgesetzten Stadium. Devona ist ein Wort das man fuer verrückt, entrückt, weggetreten benutzen kann. Es hat immer irgendwie mit Liebe zu tun, zu den Menschen, zum Leben, zu Gott. Naja und das zusammen macht die Figur Olim devona aus. Manchmal schlüfe ich in sie hinein und fuehle mich dann total devona.

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